Ansichten | Bestimmung

Was bestimmt mich?
Eine gedankliche Landkarte.


No. 1: Annäherung Mein erster Gedanke: Meine Kinder bestimmen mich.
Ist das so? Bestimme nicht ich die Kinder?


No. 2: Die Spannung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung ist viel zu groß. Zwischen Regeln und Gesetzen bei sich selbst zu bleiben, ist etwas so Herausforderndes, dass es zeitweise schadet, darüber nachzudenken. Wo bleibt das eigene Gefühl für oder gegen das »Etwas«? Wo bleibt die Haltung, nicht so viel darüber nachzudenken, was passieren könnte, das ich vielleicht nicht (so) haben will! Ein Leben in Unabhängigkeit, dem versuche ich mich anzunähern, und habe doch das Gefühl, immer wieder daran zu scheitern. Aber sind Abhängigkeit und Bestimmung nicht sowieso etwas Anderes? Niemand weiß, wieviel Zeit für das, was wir wollen, letztlich bleibt. Das Glück im Augenblick, ist das, was trägt. Gleichzeitig nervt es mich, dass ich in wichtigen Entscheidungen Anderen gefolgt bin; im Vertrauen, dass es sich richtet, von selbst, ich meine Bestimmung auch dabei finden kann und werde. Manchmal glaube ich, dass dies feige war und ich deswegen unglücklich bin. Zeitweise. Aber auch das ist etwas, das nicht bestimmt ist. Auch das ist nur ein Zustand.


No. 3: Die Entscheidung zur Freiheit ist etwas Anderes. Ich brauche keine Geländer oder andere Umfassungen, Umzäunungen, um Freiheit als Wert in meinem Denken einzuordnen, anstatt als Bedrohung zu bemessen. Freiheit beginnt im Kopf, Freiheit beginnt mit dem Fragen stellen. Vor allem und besonders zur Zeit, wenn eine gesunderhaltende und gesundmachende Selbstbestimmung aus machtpolitischen Gründen in Frage gestellt wird – als ob man selbst kein Gehirn, keine Augen und Ohren mehr im Kopf hätte. Wie nahe liegen hier Bestimmung und Angst, Angst und Macht beieinander. Wie fatal schnell hat besonders letztere Kombination so viele unserer – gesellschaftlich hart erarbeiteten – demokratischen Werte für sich eingenommen, sie wurden quasi über Nacht über den Tisch gewischt. Die prozessuale, demokratische Konsensfindung wurde zugunsten einer zunehmend willkürlichen Angstpolitik aufgefressen. Freiheitlich Bewährtes wird durch Gehorsam einfordernde Strukturen, Gesetze und Beschränkungen ersetzt. Die eigene
Gesunderhaltung wird zum Spielball politischer Motivationen, rechtfertigt durch willkürliche Gesetze, die wie Pilze aus dem Boden spriessen: ungeprüft, ungeordnet, beliebig und ohne Verifizierung. Ist das die Bestimmung, die wir in unserer Demokratie wollen? Gleichzeitig ist es bekannt und überprüft, dass Gehorsam der Nährboden vieler Konflikte, Kriege und gesellschaftliche Desaster von großem Ausmaß sind. Das ergibt Fragen, die erlaubt sein müssen und die es – rechtzeitig – zu stellen gilt!


No. 4: Und Jetzt? Meine Kinder stellen ständig Fragen, obwohl sie aus dem „Fragealter“ schon längst draußen sind. Das ist doch ein Erfolg, oder? Aus meiner Sicht sollte das Fragen nie aufhören. Kinder zu haben, die ständig fragen, sind ein großes Geschenk. Trotzdem denke ich mir manchmal, können sie nicht einfach auch mal wenigstens ein paar Minuten damit aufhören, Fragen zu stellen? Aber sie haben Recht – nur wer die Fragen stellt, wird auch für sich selbst bewusst entscheiden; es macht reicher, Fragen zu stellen.

No. 5: Ansichten
Wir gehen gemeinsam einen langen Weg. Steil, so richtig steil, ist er zu Beginn, wie angerichtet geht es über Treppen hinauf. 1600 Höhenmeter bergauf liegen vor uns, wir wollen hinauf zu einer Alpe und dort übernachten. Dort oben liegt ein selbst verwalteter Ort, ohne Wirt und ohne Wärterin. Die vor dem Zerfall bewahrte Alm wurde vor kurzem zu einem Refugium für Wandernde ausgebaut. Sie liegt oberhalb der Baumgrenze, von dort aus ist es gut möglich, dieses steile Tal zu überblicken – und darüber hinaus zu schauen. Das darüber hinaus schauen ist wichtig. Es wird Gewitter geben und starken Regen. Wir wissen nicht, was uns heute abend erwartet. Werden wir dort alleine sein? Werden wir überhaupt ankommen oder vorher umdrehen? Meine Tochter hat Angst vor Gewittern, sie hat ja auch Recht damit. Unterwegs kommt es, wie vorher gesagt, die Sonne verschwindet, es ist unangenehm schwül, alles quillt und dampft sich voll, es fängt an zu grummeln und zu grollen, wird stärker, wir werden nass, suchen Unterschlupf, frieren nur wenig, machen Pause. Bald können wir wieder weiter gehen, die Granitplatten auf dem Weg sind jetzt glatt und rutschig, aber es ist ein unfassbar schöner Weg. So steil, so sehr steil wie der Weg zu Beginn war, folgt jetzt ein angenehm dahin mäandernder Abschnitt. Wie ein verwunschener Wurm schlängelt sich der Weg oberhalb einem steil eingeschnittenen Flußtal entlang. Nach jeder Kurve denke ich, jetzt geht es nicht mehr weiter, und trotzdem tut es sich auf und es lässt sich ohne große Herausforderung einfach weitergehen. Der Fluß erlaubt uns viel zu trinken, dunkelgrüner Wald spiegelt sich im smaragdgrünen Wasser. Die dicken Kastanienbäume werden weniger, an deren Stelle treten Steineichen und Buchen. Bald sollte uns eine Lichtung erwarten, da ist sie: eine summende, in der Wärme surrende Wiese, Eidechsen huschen über die schon wieder trockenen Steinplatten. Wir stehen vor niedrigen, sich trotzig duckenden Steinhäusern. Jetzt kann es nicht mehr weit sein, der Talkessel macht sich bereit, sich zu öffnen. Heidelbeerbüsche säumen den Weg, wir bleiben ständig stehen und naschen, bewegen uns zwischen Birken und Lärchen, hüpfen zwischen den großen und kleinen Steinen auf dem Weg dahin, immer weiter. Linn: „Wandern ist wie Nachdenken, ohne sich dabei konzentrieren zu müssen. So ist mehr Platz für das Wichtige im Kopf.“

Meine Tochter redet eigentlich fast ohne Pause,seitdem wir losgegangen sind. Ich höre zu, ein Gespräch entwirft sich wie Architektur, so fühlt es sich an. Manchmal entwischen mir Teile davon, weil ich selbst abschweife,
gebe ich zu. Aber dieser Satz reisst mich aus meiner eigenen gedanklichen Kleinheit. Ich frage mich: Bestimme ich mit meinem Lebensentwurf den Weg der Kinder? Oder sind meine Kinder so stark, dass sie mit ihrem Streben mich dahin bringen, meinen eigenen Lebensentwurf so anzupassen, dass ich mich von ihrer Bestimmung lenken lasse?


Der eigenen Bestimmung zu folgen, ist daher auch Mut. Ich muss mich dafür aufs Spiel setzen, erst dann stimmt es für mich auf eine gute und
sich fortsetzende Weise. Glück sind dabei auch die eigenen Ideen. Wir sind heraus aus dem steilen, alles verschlingenden engen und dichten Grund mit den 1000 Meter hohen Hängen. Große Blöcke liegen wie Zuckerwürfel zwischen den Bäumen. Inzwischen ist das Wetter auch wieder so, dass sich keiner mehr von uns fürchtet. Noch immer ist es heiß, und so langsam möchte auch ich ankommen.

Jedoch: Schon jetzt schauen wir über das Tal hinaus!


Karin Bergdolt. September 2020